Grüner Wasserstoff in der Energiewende: Fokussierter Einsatz unverzichtbar

Seite 4: Priorisierung energieeffizienter direkt-elektrische Alternativen

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Aufgrund der praktischen Potenzialbeschränkungen in Verbindung mit dem erheblichen Zeit- und Koordinationsbedarf erscheint die Option einer breit angelegten Nutzung von grünem Importwasserstoff quer über alle Sektoren hinweg als wenig plausibel. Dies gilt umso mehr für den Zeitraum der nächsten zwei Jahrzehnte, der für die globalen Klimaschutzbemühungen besonders wichtig ist. Die Chancen für die Bewältigung der genannten Herausforderungen dürften deutlich steigen, wenn die erforderlichen Mengen von grünem Wasserstoff begrenzt sind.

Dies führt zur in der Energiesystemanalyse mittlerweile weitverbreiteten Schlussfolgerung, dass grüner Wasserstoff fokussiert in den Bereichen eingesetzt werden sollte, die aus heutiger Sicht keine vielversprechenden Aussichten für eine direkte Elektrifizierung oder anderweitige Dekarbonisierung haben. Dazu gehören insbesondere die Grundstoff-, Chemie- und Stahlindustrie sowie Wasserstoff bzw. E-Fuels als Kraftstoff für den Schiffs- und Flugverkehr. Daneben scheint Wasserstoff für die Realisierung von Langfrist-Stromspeichern aus heutiger Sicht unverzichtbar zur Abdeckung saisonaler Spitzenlasten. Diese Anwendungen werden teils als "No-Regret-Optionen" in klimaneutralen Zukunftsszenarien betrachtet.

Dagegen sollten energieeffizientere, direkt-elektrische Optionen der Sektorenkopplung wo immer möglich priorisiert werden. Dazu gehören insbesondere Batterie-elektrische Fahrzeuge im Straßenverkehr sowie die Nutzung von Wärmepumpen. Aufgrund der viel höheren Energieeffizienz ist es auch sehr wahrscheinlich, dass direkt-elektrische Optionen in diesen Bereichen dauerhaft deutlich günstiger sein werden als Wasserstoff-basierte Alternativen. Speziell im Pkw-Bereich ist mit Blick auf die Investitions- und Entwicklungstätigkeiten der großen internationalen Hersteller ohnehin absehbar, dass Batterie-elektrische Fahrzeuge das Rennen machen.

Der Gründer von Bloomberg New Energy Finance, Michael Liebreich, hat zur Visualisierung der notwendigen Priorisierung von Wasserstoffanwendungen eine recht eingängige "Hydrogen Ladder" entwickelt, die die Anwendungen zwischen den Kategorien "alternativlos" und "unwirtschaftlich" sortiert. Oben befinden sich Anwendungsbereiche, für die Wasserstoff in Hinblick auf den Klimaschutz alternativlos erscheint. Dabei handelt es sich weitgehend um Industrieprozesse. Unten befinden sich Anwendungen, bei denen andere, meist direkt-elektrische Alternativen günstiger sind. Dazu gehören insbesondere verschiedene Arten des Verkehrs an Land sowie die Bereitstellung von Niedertemperaturwärme.

Leiter der Einsatzbereiche sauberen Wasserstoffs (Clean Hydrogen Ladder), in Anlehnung an die Darstellung eines Energieeffizienzlabels. Oben befinden sich Anwendungsbereiche, für die Wasserstoff in Hinblick auf den Klimaschutz alternativlos erscheint; unten befinden sich Anwendungen, bei denen andere, meist direkt-elektrische Alternativen günstiger sind.

(Bild: Clean Hydrogen Use Case Ladder – Version 4.1 @mliebreich. Eigene Übersetzung.)

In einigen Bereichen, wie etwa im Straßengüterverkehr, ist allerdings noch nicht klar absehbar, wo künftig der Einsatz von Wasserstoff vorteilhafter sein könnte als andere Alternativen, da die Technologieentwicklung hier nur begrenzt vorhersehbar ist. Zudem ist teilweise auch noch Forschung zu Wechselwirkungen und Gesamtkosten im Bereich der Systemanalyse nötig. Bei allen Energiesystembetrachtungen muss auch beachtet werden, dass grüner Wasserstoff im Vergleich zu elektrischer Energie relativ gut speicherbar und transportierbar ist. Ob dieser Vorteil seine Effizienznachteile aufwiegt, muss für einzelne Anwendungen systemanalytisch untersucht werden.

Grüner Wasserstoff kann – genauso wie andere Optionen der Sektorenkopplung – fossile Kraft- und Brennstoffe in Anwendungen außerhalb des traditionellen Stromsektors ersetzen und somit Treibhausgasemissionen senken. Zusätzlich kann regional produzierter grüner Wasserstoff aber auch einen Beitrag für eine bessere Systemintegration der fluktuierenden Stromerzeugung aus Windkraft und Solarenergie leisten. Dies ist möglich, da Elektrolyseure und andere Teile von Wasserstoff-Lieferketten nicht nur eine zusätzliche Nachfrage nach erneuerbarem Strom verursachen, sondern diese Nachfrage zeitlich auch flexibel gestaltet werden kann. Wie ausgeprägt diese zeitliche Flexibilität ist, hängt von verschiedenen Faktoren ab, unter anderem von der Form, in der Wasserstoff gespeichert und transportiert wird sowie von der Entwicklung der Technologiekosten in diesem Bereich.

Dabei kann sich allerdings ein Trade-Off zwischen zeitlicher Flexibilität und Energieeffizienz ergeben: Wasserstoff-Lieferketten, die eine besonders hohe zeitliche Verschiebbarkeit von Stromnachfrage und Wasserstoffbereitstellung erlauben, tendieren dazu, besonders hohe Energieverluste aufzuweisen und umgekehrt. Dieser Trade-Off wurde in einer kürzlich veröffentlichten quelloffenen Modellanalyse untersucht.

Als exemplarisches Anwendungsbeispiel diente die Bereitstellung von grünem Wasserstoff an Tankstellen in Deutschland, die mit dem quelloffenen Stromsektormodell DIETER untersucht wurde. Dabei werden drei großskalige, zentrale Wasserstoff-Lieferketten sowie eine dezentrale Wasserstofferzeugung an der Tankstelle betrachtet. Bei den zentralen Lieferketten wird unterschieden zwischen Druckwasserstoff (GH₂), Flüssigwasserstoff (LH₂) und an flüssige organische Wasserstoffträger gebundenen Wasserstoff (Liquid Organic Hydrogen Carriers, LOHC). Diese Optionen enthalten jeweils die Möglichkeit einer großformatigen Wasserstoffspeicherung. Die dezentrale Elektrolyse direkt vor Ort an der Tankstelle dagegen verfügt dagegen nur über einen kleinen Pufferspeicher, benötigt jedoch weniger Umwandlungsstufen. Im Modell wurden die für das Gesamtsystem kostengünstigsten Auslegungen dieser verschiedenen Wasserstoff-Lieferketten bestimmt. Dies geschah für verschiedene Zukunftsszenarien mit unterschiedlichen Wasserstoffbedarfen und steigenden Anteilen erneuerbarer Energien.

Drei zentrale Lieferketten für grünen Wasserstoff und Vor-Ort Elektrolyse an der Tankstelle. Die Lieferketten haben unterschiedliche Eigenschaften hinsichtlich der Produktionsprozesse, dem Transport und der Speicherung. Der Blitz symbolisiert den notwendigen Einsatz von Elektrizität.

(Bild: Stöckl et al. (2021): Optimal supply chains and power sector benefits of green hydrogen. Scientific Reports 11, Article number: 14191)

Es zeigt sich, dass bei eher niedrigen Anteilen fluktuierender erneuerbarer Energien eine zwar zeitlich wenig flexible, aber aufgrund geringerer Umwandlungsverluste vergleichsweise energieeffiziente dezentrale Elektrolyse vor Ort am kostengünstigsten ist. Dagegen wird bei steigenden Anteilen erneuerbarer Energien und steigender Wasserstoffnachfrage die zeitlich flexiblere Bereitstellung von Wasserstoff durch die zentralen Lieferketten mit Flüssigwasserstoff kostengünstiger, gefolgt von LOHC. Dies gilt trotz einer deutlich schlechteren Energieeffizienz dieser Optionen durch zusätzliche Energieverluste bei der Verflüssigung (LH₂) bzw. bei der Dehydrierung (LOHC). Im untersuchten Szenario hängt dies stark mit der Nutzung temporärer Stromüberschüsse zusammen, für die es in dieser Studie angewendeten Modellkonfiguration außer Stromspeichern keine andere Verwendungsmöglichkeit gibt. Druckwasserstoff (GH₂) ist in den modellierten Szenarien immer unterlegen, sofern keine günstigen Kavernenspeicher verfügbar sind.

Die Modellanalyse zeigt, dass eine zeitlich flexible Wasserstoffbereitstellung die gesamten Systemkosten verringern kann, und damit auch die Kosten der Integration erneuerbarer Energien. Dies gilt jedoch nur, wenn der Wasserstoff in einem Stromverbund erzeugt wird, beispielsweise im europäischen Verbundnetz. Für importierten Wasserstoff aus entfernten Regionen ohne Stromnetzverbindung entfallen derartige Vorteile für die Integration erneuerbarer Energien.

Würden auch andere Optionen der Sektorenkopplung berücksichtigt, die mit Elektrolyseuren um günstige temporäre Stromüberschüsse aus Windkraft und Solarenergie konkurrieren, dürfte der Trade-Off zwischen Energieeffizienz und zeitlicher Flexibilität sich aufgrund knapper Überschüsse zunehmend in Richtung der energieeffizienteren Optionen verschieben. Eine detaillierte Modellierung derartiger Interaktionen verschiedener Optionen der Sektorenkopplung in ambitionierten Klimaschutzszenarien ist ein aktuelles Feld der energiesystemanalytischen Forschung.